Der Heimatlose

Der Heimatlose, entstand im Auftrag des Schweizer Duos UMS ‘n JIP (Blockflöten, Stimme, Elektronik) im September 2012. Es handelt sich um eine elektroakustische Fassung der ersten vier Gedichte des Lyrischen Intermezzos (1822-1823) des deutschen Dichters Heinrich Heine.

Die Idee, mit diesen Texten zu arbeiten, war ein Vorschlag von Javier Hagen des Schweizer Duos. Ich konzentrierte mich auf den Anachronismus dieser Texte, die aus der deutschen Romantik stammen, und mit welchen Robert Schumann bereits 1840 seinen Dichterliebe-Zyklus komponierte, der den Höhepunkt des deutschen romantischen Kunstliedes markieren sollte.

Die Idee erschien mir schwerfällig, und die deutsche Romantik erinnerte mich oft an die europäische Geschichte, die von der Nazi-Episode des 20. Jahrhunderts geprägt war, die durch Verzerrung (meiner Meinung nach) jeden ehrlichen künstlerischen Ansatz unmöglich machte.

Trotz der gemeinsamen Sprache wurde dieses Gefühl von den beiden Schweizer Musikern nicht geteilt, die das poetische Werk als formale Abstraktion betrachteten, die in ihrem Kontext mit Ironie oder naiv für das Vergnügen der Schönheit zu betrachten war.

Um das Unbehagen auszudrücken, das ich an der Idee spürte, mit diesem stilistisch markierten Material in der erbärmlichen Dualität zwischen Naivem und Ironischem zu arbeiten, beschloss ich, eine Klangproduktion zu gestalten, in welcher ich diese Texte in einen modernen und aktuellen Kontext setzte. Collagegleich wollte ich die Zueigenmachung dieser Texte eines Zeitgenossen widerspiegeln: einen jungen Flüchtling, der auf einem  Rettungsboot einige Kilometer vor der europäischen Küste verdurstet.

Bevor er verschwindet, rezitiert und singt der Flüchtling diese Gedichte, in denen er die Versprechungen auf ein besseres Leben gehört hatte.

Diese Texte mit ihren leichten, frühlingshaften, romantischen, amourösen, sentimentalen, ja erotischen Konnotationen werden dann zu den Formanten einer absurden und grotesken Collage in einem Kontext, der an den Grenzen unserer humanistischen und zivilisatorischen Ideale liegt. Das was für einen Dichter des 19. Jahrhunderts ein Liebeslied mit einer so trivialen Beschäftigung wie der einer Doppeldeutigkeit sein konnte (und später Teil des deutschen kulturellen Erbe wurde) wird im 21. Jahrhundert zu einer bitter ernsten Zweideutigkeit. Welche wie eine mit den Perversitäten unserer Gesellschaften gezeichnete, touristische, kitschige Postkarte, die im Zentrum der humanitären Katastrophe des Anfangs unseres 21. Jahrhundert gefunden wird.

Der Image-Shift spiegelt daher den stilistischen Wechsel zwischen H. Heines Prosa und meiner Vorstellung von zeitgenössischer kreativer Musik wider. Die Reibung, die sich aus dieser Gegenüberstellung ergibt, schwingt auch in der Dualität mit, die unseren politischen Streitigkeiten zwischen links und rechts, progressiv und konservativ, entgegenstehen, und den persönlichen und kollektiven Entscheidungen, die zwischen Engagement, Resignation und Liberalismus zu treffen sind. So wie in der Beziehung zwischen Männern und Frauen, die in unserer Gesellschaft aktiv umzudenken sind.

Ich konzentrierte meine Arbeit auf vier Affekte, die ich nacheinander mit den vier Gedichten in Verbindung brachte:

“Im wunderschönen Monat Mai”, “Aus meinen Tränen sprießen”, “Die Rose, die Lilie, die Taube, die Sonne”, “Wenn ich in deine Augen seh”…..

Hoffnung – Ironie – Bitterkeit – und Resignation.

Es ist kein Werk für live-Elektronik sondern für elektronisches Tonband. Die Grenzen zwischen Elektronik und Akustik, objektivem Set (der Wellengang) und der Reflexion des Charakters, Anachronismus und Zeitgenossenschaft verwischen sich allmählich. In den Samples, die aufgenommen wurden, um den vier Songs ihren Gesamtton zu geben, finden wir heute einige sehr bekannte Klänge: ein Neon, das brutzelt, die Wellen eines Magnetfeldes, das Rollen eines Betonmischers…

Florian Schwamborn – Paris 2013